vom rand aus  2013
Text zur Arbeit von
Dr. Markus Mittmann | Mai 2013


Kurzbeschreibung
Ausstellungsansichten
Publikation

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Als vor einigen Jahren Bekannte von Bettina Lockemann auf der Autobahn nach Berlin spontan beschlossen, das historische Zentrum der ihnen bis dahin nicht bekannten Stadt Braunschweig zu besichtigen, erwies sich dies als schwieriges Unternehmen. Sie erreichten weder Dom noch Burgplatz. Auf großzügigen Verkehrsachsen wurden sie so zügig um die Innenstadt herumgeführt, dass sie nie zum wirklichen Zentrum gelangten, schließlich aufgaben und die Stadt wieder verließen.

Die Fotoarbeiten der Ausstellung VOM RAND AUS zeigen Situationen, die ein solches Erlebnis nachvollziehbar machen. Straßen, die ihre Funktion als Verbindung von Orten scheinbar verloren haben, nur noch um ihrer selbst Willen existieren. Straßen, die nicht mehr zum Ziel führen, sondern den Fahrzeugverkehr in Längs- und Kreisbewegungen am Fließen halten, ihm höchstens im Ampelstau Verschnaufpausen gönnen. Mit diesen Bildern tastet sich die Fotografin in die Stadt hinein.

Gewöhnlich führen die Wege in eine Stadt zu einer baulichen Dominante, Rathaus, Kirche, Burg oder Schloss. In Braunschweig findet sich das Zentrum schon immer am Burgplatz mit Dom und Löwenstandbild. Das rekonstruierte Schloss mit seinem großzügigen Vorplatz ist inzwischen gleich wichtig geworden, wie die Entwicklung der Postkartenabbildungen bestätigt. Diese wichtigsten baulichen Zeichen sind immer Elemente, die zum Symbol einer Stadt werden. Braunschweig ist dort, wo der Löwe steht oder das Schloss. Aber gerade die Darstellung dieser Symbole vermeiden die Fotos ganz bewusst, denn tatsächlich spielt all das, was wir Stadt nennen, im Wesentlichen an Orten, die keinen Symbolcharakter beanspruchen können. Es sind Orte, an denen Menschen wohnen, an denen sie schlafen gehen und morgens aus dem Fenster schauen, hinein in eine scheinbare Beliebigkeit oder Zufälligkeit. Diese Orte liegen zumeist außerhalb des Zentrums, ohne den Blick auf Postkartenwürdiges. Während sich das geschäftliche und offizielle Leben in der Mitte ansiedelt, spielt das städtische Wohnen am Rand jenes Bereichs, der für die Identität einer Stadt verantwortlich ist. Die Bewohner verbringen ihre meiste Zeit nicht dort, wo sich die Touristen versammeln. Berechnete man die Bedeutung städtischer Orte nach der Anzahl, der von einzelnen Menschen an ihnen erlebten Stunden, so läge das Zentrum nicht mehr nur in der Mitte.

Auch bewahren die Wohngebäude im Laufe ihrer Geschichte zumeist ihre Funktion, während die baulichen Dominanten der Stadt häufig Umdeutungen erfahren. Durch das Schlossportal schreitet in Braunschweig nicht mehr der Monarch, sondern der einfache Bürger auf der Suche nach Kleidung oder einem Eisbecher. Dennoch bleiben die wichtigen Bauten immer typisch, die Wohngebäude dagegen sind gerade dadurch bestimmt, dass sie sich untypisch geben. In Braunschweig trifft dies besonders auf die im „Dritten Reich“ und die gleich nach dem Krieg entstandenen Wohnungen zu. Das Spezielle, das Individuelle spielt sich hinter den Fassaden ab. Es ist nicht sichtbar, die Fotos aber behaupten, dass in den öffentlichen Straßenräumen, die immer eine Neutralität beanspruchen und dies oft durch ihre Uniformität betonen, dennoch etwas spürbar wird. Zwar ein eher vager Begriff, aber dennoch deutlich vorhanden.

Der Betrachter der Arbeiten muss sich nach innen wenden, um ihre subjektive Innerlichkeit zu erfassen. Diese wurzelt in einer persönlichen Erfahrung, die jedem dieser Bilder zugrunde liegt. Die Fotos sagen klar, dass es nicht um die reine Erscheinung und nicht um das Gefallenwollen geht, nicht um die vordergründige Bedeutung des Dargestellten.

Wir entdecken menschenleere Orte, in eigentlich dicht bewohnten Straßen. Die Stadtbewohner tauchen in den Bildern vor allem als Autoinsassen auf, bleiben aber schwer wahrnehmbar, ein Arm im Autofenster, verschwommene Gesichter hinter Windschutzscheiben. Diese Menschen sind der Stadt abhanden gekommen, ihre Autos selbst führen das Leben. Entsprechend kennzeichnet die Dominanz der Verkehrsflächen, die uns als Erscheinungsform der Urbanität aus großen Städten vertraut ist, die gezeigten Bilder, verkehrsreich oder leer, Fahrzeuge in Bewegung oder im Ruhezustand.

Im Aufbau der Darstellungen zeigt sich die Variationen der Elemente Straße, Auto, Haus, wobei die Straße als bildnerisches Element immer eine Hauptrolle beansprucht. Bettina Lockemann beschreibt die dargestellte Stadt nicht als ein Gebilde der Zusammenhänge. Sie fragmentiert die Stadt, das Hochformat betont diesen Charakter. Im Zentrum der Arbeiten finden sich dann doch einige Querformate. Die nur hier aus dem fahrenden Auto unternommenen Windschutzscheibenblicke lassen die Straßen noch breiter erscheinen. Sie deuten den Stadtraum als einen Straßenraum, bei dem die begrenzenden Gebäude zum kulissenhaften Rahmen herabgestuft werden. Andere Fotos zeigen beschauliche Seiten der Stadt aus Siedlungen am Stadtrand. - Jene Eindrücke, die wir sehen, offenbaren ihren Inhalt ohne Angriffslust. Sie prangern nicht an, sie umreißen ihre Aussage sachlich und still, eine Bestandsaufnahme mit Gefühl.

Natürlich ist das Thema der Fotos nur in ihrer vordersten Bedeutungsebene die Stadt, im Speziellen und im Allgemeinen. Und natürlich besitzen die Bilder einen dokumentarischen Wert. In der Dokumentation liegt aber nicht das Eigentliche der Fotos, sondern ihr Mehrwert. Sie stammen aus jener Stadt, die sich die Fotografin mit diesen Arbeiten aneignet. Deshalb dürfen wir die Spuren einer subjektiven Erfahrung suchen, eine spezifische Deutung der Realität.

In dieser Form setzen die Arbeiten eine lange Tradition fort. Der Versuch, eine alltägliche und persönliche Umwelt neu zu verstehen und abzubilden wird in der Kunstgeschichte schon in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts unternommen. Zunächst werden Momentaufnahmen aus dem Alltag, auch Technik und Industrie, als Bildgegenstände in der Malerei möglich. Die Fotografie übernimmt, aufgrund ihrer Möglichkeit, genaue Abbildungen zu schaffen, im 19. Jahrhundert diesen Darstellungsbereich. Das Thema Stadt bekommt in dieser Kunst eine besondere Bedeutung und damit nicht nur das Zeigen von Kirchen und Schlössern. Das Alltägliche erobert seinen Platz.

Für diese Abbildungen aus der Wirklichkeit von damals gilt, wie für die Fotos der Ausstellung VOM RAND AUS, dass sie nicht vordergründig als Ausschnitte gesehen werden dürfen, sondern immer für das Wirklichkeitsganze stehen. Das Wesenhafte liegt hinter der sichtbaren Hülle, die uns die Fotografie so leicht beschaffen kann. Es ist ein inneres Bild, das dem Betrachter entsteht. Die Fotos zeigen nicht mehr als jeder zu jeder Zeit sehen kann und ihre Bedeutung wird nicht über Lichtstimmungen transportiert, für die man sich ein Jahr auf die Lauer legen muss, keine Spezialeffekte oder Labortechniken. Sie stehen anhand des Sichtbaren für all das, was wir nicht sehen, eher fühlen können, Vermutungen, Ahnungen, Gedankennebel. Die Fotos von Bettina Lockemann sind einfach, aber dies immer im Sinn jener Komplexität, die nur durch Einfachheit erzeugt werden kann, nicht eindeutig, niemals festlegbar und sehr persönlich.





Braunschweig - Die Entwicklung einer Stadt im Zeitraffer

Jede Stadt kann als Ergebnis eines langen und auf den Einzelfall bezogenen Prozesses gelten. Braunschweig ist eine mittelalterliche Gründung, ausgehend vom Bereich des heutigen Burgplatzes. Als Besonderheit entwickelte es sich aus fünf selbständigen Bezirken mit Stadtrecht. Dies erklärt, warum wir noch heute mehrfach die Kombination von Marktplatz und Marktkirche, z.T. noch mit Rathaus, finden. Braunschweig wächst auf seinem mittelalterlichen Stadtgrundriß.

Vor allem im 18. und 19. Jahrhundert entsteht eine Vielzahl von Wohn- und Geschäftshäusern. Dieser Bereich wurde zum engeren Ring der Stadt. Um das Jahr 1900 herum erlebt die Stadt dann Erweiterungen innerhalb und außerhalb einer zusätzlichen, weiter gefassten Ringstraße. Wohnquartiere wie das östliche Ringgebiet entstehen als oft viergeschossige Wohnbauten mit unterschiedlich aufwendig verzierten Fassaden. In den zwanziger Jahren verändert sich die Stadt kaum noch in ihrem Zentrum, bis zur Wirtschaftskrise entstehen, v.a. in der Außenstadt, moderne Wohnsiedlungen wie z.B. das Siegfriedviertel.

1933 ändert sich das Bild. Braunschweig wird zur zentralen Großstadt innerhalb eines riesigen Zentrums der Rüstungsindustrie, das Bauen wird gleichzeitig zu einem Instrument politischer Bestrebungen. Neben Militär- und Parteibauten werden so viele, nun aber wieder konservative und einfachere Wohngebäude erstellt, dass die Einwohnerzahl Braunschweigs von 156.000 (1933) bis hinein in die Kriegsjahre um 25% auf etwa 200.000 steigt.

Den grausamen Einschnitt bringt auch hier der Bombenkrieg. Das Bild der Stadt wird bis zur Unkenntlichkeit entstellt, die Innenstadt zu 90% zerstört, wobei die Wohnbauten des „Dritten Reichs“ die Flächenbombardements weitestgehend überstehen. Etwa 50.000 Bewohner leben heute in Wohnungen aus dieser Zeit. Von den erhaltenen Fachwerkgebäuden im Zentrum wird für einen verkehrsgerechten Wiederaufbau noch einmal mehr als die Hälfte abgebrochen. Das Bild der historischen Stadt sollte aufgrund des Gesamtkonzepts nur innerhalb sogenannter „Traditionsinseln“ (z.B. Magniviertel) erhalten bleiben. Als auch noch die Ruine des Residenzschlosses nicht wieder aufgebaut sondern abgebrochen wird, erkennen alte Bewohner das neu entstandene Stadtzentrum nicht mehr. Der Bohlweg wird zum örtlichen „Kudamm“ und sieht nun aus wie eine moderne Stadtkulisse zeitgeistreicher Fünfziger-Jahre-Filme. Was bleibt ist das schon vor dem Krieg existierende Grundschema der Stadt: zwei Ringe um ein Zentrum herum und radial in dieses hineinführende siedlungsbegleitete Verkehrsachsen. Auch wenn sich Braunschweig in den Siebziger Jahren durch vorstädtische Siedlungen mit vielgeschossigen Wohnbauten erweitert (z.B. Weststadt) sucht die Stadt ihre Identität auch heute noch zwischen Schloss und Burgplatz.

Dr. Markus Mittmann | Mai 2013